Ötztaler (test)

238 Kilometer 5500 Höhenmeter, 4 Pässe – Zahlen die jeden Radsportler aufhorchen lassen. Der Ötztaler Radmarathon ist ein Klassiker und jedes Jahr kämpfen viele Hobbyradsportler um einen der begehrten Startplätze. Auch für uns Giant-Alpecin Grandfondo Fahrer ist es etwas ganz besonderes hier am Start stehen zu dürfen.

Am Vorabend des Rennens ist die Stimmung eines jeden Fahrers sehr unterschiedlich. An den Gesichtern kann man von positiver Anspannung über blanke Nervosität bis hin zur puren Gelassenheit alles ablesen. Mein Wohlbefinden pendelt sich zwischen Magenkribbeln, Herzrasen und Schlaflosigkeit ein. Man könnte meinen ich habe Morgen nochmal meine praktische Fahrprüfung oder muss nochmal zu einer Abiturnachprüfung. Nun ja, nach unendlich vielen Schafherden muss wohl doch das Sandmännchen auch mal den Weg zu mir gefunden haben und ich finde noch 2-3 Stunden Schlaf bevor der Wecker um 04:15 Uhr die Nacht beendet und der Tag des langen Leidens beginnt.

Um 04:30 Uhr dem Körper Nahrung zu zuführen ist für mich schon ungewohnt aber „watt mutt dat mutt“. Für mich gibt es (ganz wie empfohlen) nur etwas wo ich weiß das es mein Körper auch verträgt und verarbeiten kann: etwas Rührei mit Speck, ein Weizenbrötchen mit Honig und eins mit der guten Nußnugatcreme, etwas Müsli, einen Kaffee und Wasser mit Salz (!) ja mit Salz! Das werden wir definitiv heute viel verlieren und ein ausgewogener Mineralhaushalt ist wichtig, damit keine Mangelerscheinungen auftreten (vor allem Krämpfe).
Nachdem das Essen mehr schlecht als recht dem Körper zugeführt ist heißt es jetzt ins Rennoutfit schlüpfen, welches ich mir bereits am Vorabend akribisch genau gepackt und bereit gelegt hatte. Aufgrund des exzellenten Wetters geht es heute für mich mit kurzer Hose, Kurzarmtrikot, Armlinge und Weste an den Start. In meinen Taschen befinden sich 4 Gels, 2 Riegel, eine Banane (die ich noch vor dem Start essen werde), Handy und ein kleines Multitool für alle Fälle. Jetzt heißt es den Bock aus dem Stall holen (Radkeller), den Pioneercyclo nochmal kalibrieren und dann kann es von mir aus losgehen. Jörg Ludewig trommelt alle Starter vorm Hotel nochmal zusammen, eine kurze Ansprache folgt die uns nochmal bis in die Haarspitzen motiviert. Ich sorge dann nochmal für einen kleinen Lacher, weil ich vor lauter Aufregung meine Trinkflaschen vor dem Hotel vergessen hab. Zum Glück war Supporterin Claudi von den Alpecin-Allstars aufmerksam und bringt sie mir noch bevor wir runter in den Ort rollen um uns ins Starterfeld einzureihen.

Bevor wir uns in die Masse integrieren werden schnell noch ein paar Fotos gemacht und es gibt mit allen noch ein kurzes Shakehands bevor wir uns dann alle irgendwie versuchen gegen 06:10 Uhr in einen Startblock reinzumogeln. Die Aufregung steigt merklich an, die Herzfrequenz fällt nicht mehr unter 90, es dämmert schon leicht, der Moderator heizt der Masse mit ein paar Ansagen ein und auch die VIPs (u.a. Jan Ullrich) richten nochmal ein paar Motivationsworte ins Mikro bevor dann pünktlich um 06:45 Uhr der ersehnte fliegende Start erfolgt.

 

ÖRM_1

Nun rollt sie also, die Carbon- und Alulawine des Ötztaler Radmarathon 2015 und ich mitten drin! Der Start verläuft unproblematisch: ich schwimme in dem riesigen Starterfeld ca. 32 Kilometer, fast ausschließlich, bergab in Richtung Ötz (Sölden 1377 m -> Ötz 820 m) mit. Ein Blick auf den Pioneer verrät eine Durchschnittsgeschwindigkeit von über 50 KM/Hbis hier hin. Alle Fahrer verhalten sich fair, lassen Platz und Abstand und so kann ich keinen Sturz, trotz des Trubels bis hier hin wahrnehmen. Gott sei Dank! In Ötz angekommen treffe ich Alex wieder (auf Grund des Trubels beim Start hatten wir uns alle aus den Augen verloren) und wir rollen gemeinsam ins Kühtai ein, den ersten großen Anstieg des Tages (1200 HM insgesamt). In den ersten 5 Kilometer bleibt das Feld noch sehr geschlossen und so schiebt sich die Masse konstant den Berg hoch. Nach und nach entschlackt sich die Masse etwas und der Ein- oder Andere Fahrer muss den teilweise sehr steilen Abschnitten am Kühtai (bis zu 18 %) früh seinen Tribut zollen und die Intensität etwas herausnehmen. Alex und ich gehen es aber von Beginn an etwas defensiv an. Wir treten beide ca. 240 Watt das Kühtai hoch, damit bleiben wir unter unserer Schwelle und stellen sicher, dass noch genügend Körner für die anderen Anstiege da sind. Auf 2020 Meter angekommen erwartet uns die erste Labe, die wir nur sehr kurz ansteuern.
Dann erfolgt die erste Belohnung, die steile- und megaschnelle Abfahrt vom Kühtai runter. 15 Kilometer lang, 1300 Meter bergab – hier muss man den Lenker schon ordentlich fest halten und trotz viel Respekt und Anspannung knacke ich die 100 km/h bergab (105 um genau zu sein), das fühlt sich wie fliegen an und links und rechts neben der Fahrbahn sieht man alles nur noch verschwommen. Wahnsinn! Ich bin teil einer kleinen Gruppe, ca. 10 Fahrer. Alex habe ich leider im Hang verloren und so erreiche ich mit meiner Gruppe Kematen (auf ca. 700 m). Von hier an geht es in der Gruppe im belgischen Kreisel bis nach Innsbruck. Wir machen ordentlich Dampf! In Innsbruck biegen wir dann in Richtung des berühmten Bergisels ab und dies läutet dann auch schon den Start des Anstieges hoch zum Brenner ein. Unsere kleine Gruppe integriert sich nun wieder in ein größeres Fahrerfeld. Geschätzt sind es wohl 40-50 Radler. Der Anstieg zum Brenner ist langezogen: 39 Kilometer und „nur“ 777 Höhenmeter. Ein richtiges Pacing hier zu finden ist schwierig, denn gefühlt fährt man oft relativ eben, aber es sind doch immer 2-3 Prozent Steigung und hinzukommt starker Gegenwind. Auf den 39 Kilometer entzerrt sich das Feld wieder und splittet sich sehr stark. Für mich ist es schwierig eine gute Gruppe zu finden und so fahre ich teilweise alleine beziehungsweise springe von Gruppe zu Gruppe was einiges an Körnern kostet aber ca. 5 Kilometer vor der Passhöhe kann ich wieder zu einem großen Feld aufschließen. Erst mal die Beine im Windschatten etwas fallen lassen und ein paar Riegel nachschieben, trinken und allgemein wieder etwas runterkommen! Gut eingepackt in die Gruppe biege ich in die lang ersehnte Labe am Brenner ein. Ich hatte mir vorgenommen etwas länger hier halt zu machen. Erst mal ein Cola trinken, ein Käsebrot und Salzhörnchen essen und dann die Flaschen wieder auffüllen lassen! Gerade als ich die zum Rad bringe taucht Alex wieder auf und wir entschließen uns gemeinsam weiter zu fahren. Schnell gibt es noch ein paar Nudeln und ein paar Löffel Suppe, ein kurzer Gang aufs Örtchen und dann heißt es wieder aufbocken und gemeinsam den Brenner runterrollen. Hier ist es wieder dasselbe Prozedere: wir hangeln uns gemeinsam von Gruppe zu Gruppe bis wir recht schnell Sterzing erreichen wo auch schon der Anstieg des Jaufenpasses beginnt (1130 HM auf 15,5 KM).
Der Jaufenpass ist ein schöner Anstieg, wenn man denn einen Anstieg hier noch als schön bezeichnen kann – schließlich brennen die Beine schon. Er ist nicht zu steil und schön schattig, was eine echte Wohltat ist, denn mittlerweile fahren wir in der Mittagssonne und die brutzelt ununterbrochen. Den Jaufen hoch lassen wir viele Fahrer stehen die vermutlich zuvor schon zu stark überpaced haben. Wir können die Wattwerte aus dem Kühtai auch nicht mehr ganz halten und pendeln uns ca. bei konstanten 210-220 Watt ein, da der Rücken mittlerweile zu zwicken beginnt gehe ich nun vermehrt aus dem Sattel. Das hat Vor- und Nachteile. Der Wiegetritt kostet an sich mehr Körner aber es ist auch eine andere Belastung und sorgt somit etwas für Entlastung der Oberschenkel und des Rückens. Gegen Ende des Jaufens muss ich Alex leider etwas zurücklassen, denn er hat mit Magenproblemen zu kämpfen und kann kaum noch etwas essen oder trinken, was bei diesem Wetter tödlich sein kann! Ich kurbele ununterbrochen weiter und hoffe er schafft es bis zur nächsten Labe, damit er sich etwas erholen kann! Oben angekommen muss ich mich kurz dehnen und schütteln. Mittlerweile tut fast jedes Körperteil irgendwie weh. Ich hoffe es wird nicht noch schlimmer! Am Gabentisch der Labe gibt es für mich wieder Brote, Kuchen, Cola und ein Red Bull. Gerade als ich meine aufgefüllten Trinkflaschen wieder ins Rad stecken wollte kommt Alex an der Labe an. Er hat es geschafft ist aber sichtlich fertig.
Wieder aufgesattelt verteilen wir noch eine Wasserflasche über unseren Köpfen bevor es in die letzen Höhenmeter des Jaufens geht. In der Abfahrt verliere ich Alex wieder und hier werden sich leider unsere Wege für den Rest des Rennens trennen. Die Abfahrt des Jaufenpasses ist traumhaft! Kurvenreich, dennoch sehr schnell und aufgrund des schlechten Fahrbahnbelages auch sehr fordernd was die Konzentration betrifft. Nicht einfach, gerade weil die Konzentration mit zunehmender Ermüdung nachlässt. Aber alles geht gut und ich fliege (gefühlt) runter bis nach St. Leonhard zum Highlight des Tages: dem Timmelsjoch!
28,7 quälende Kilometer, die 1759 Höhenmeter beinhalten, warten auf mich und das alles bei mittlerweile mehr als 30 Grad! Das wird eine echte Tortur! Am Vorabend hatte man uns gesagt: „das Timmelsjoch besteht abwechselnd aus 7 leichten- und 7 schweren Kilometern“. Schade nur, dass ich nicht mehr weiß womit es nun beginnt. Und während ich so den Berg hoch schleiche kann ich beim besten Willen auch nicht erfühlen wo da 7 leichte Kilometer kommen sollen. Jeder Höhenmeter massakriert nun meine Muskeln im Oberschenkel. Die Hitze setzt mir komplett zu und ich sehne mich nur nach einer Labe. Eigentlich sagt der Körper schon längst „komm lass gut sein, das ist doch unmenschlich“ aber der Kopf will einfach weiter. Ich mache teilweise meine Augen zu um während des Tretens nicht zu sehen was da vor mir liegt. Das Einzige was mich aufmuntert, so blöd es auch klingt, ist: das es wohl allen hier so geht! Jeder kämpft gegen den inneren Schweinehund und alle kriechen im Schneckentempo den Berg hoch und sehnen sich nach einer kurzen Erholung. Bei etwas mehr als der Hälfte ist es dann auch endlich soweit! Die Labe! Ich stürze mich zu den Getränken, Iso Drink, Cola, Wasser, Wasser mit Salz. Ich schütte alles in mich rein was geht! Dazu gibt es wieder etwas Kuchen auch wenn ich Süßes mittlerweile nicht mehr sehen kann. Aber ich brauche auf den letzten schwierigen Kilometern nochmal schnell verfügbare Energie. Nach einem kurzen Plausch an der Labe geht es auf in den letzten Kampf. Die Sonne brennt mittlerweile auf den Pelz die Beine sind schwer. Ich bin froh, dass das Stück nach der Labe vorerst recht flach ist und nun mehr und mehr Tunnel kommen die für kurzzeitige Kühlung sorgen. Aber schon bald wandelt sich der Charakter des Passes wieder und es wird steiler, leider! Jede Kurbeldrehung ist nun unfassbar anstrengend und der Berg scheint kein Ende zu nehmen, da kommen die Leute an der Strecke nochmal genau richtig. Mit Allez-Allez rufen und aufmunternden Worten wird man nochmal angepeitscht und motiviert. Der Support ist wirklich grandios und bitter nötig. Mit nahezu toten Beinen erreiche ich endlich den angekündigten letzten Tunnel, bevor es recht flach bis zum Torbogen auf der Passhöhe geht. Ich kann mir einen kurzes aber lautes: „yes! endlich“ während des Passierens nicht verkneifen. Vermutlich hatte ich mich hier schon etwas zu früh gefreut, denn nach einer kurzen, schönen und flotten Abfahrt wartet noch ein „kleiner“ Gegenhang (200 HM) auf mich in den ich mit circa 90 km/h reinrolle. Ich hatte gehofft der Schwung reicht bis oben aber weit gefehlt! Hier wurde nun gänzlich der Stecker gezogen. Unter Schmerzen schaffe ich aber auch die letzten Höhenmeter noch irgendwie – ich bin absolut an meiner Grenze, vermutlich sogar darüber und so bin ich überglücklich als sich endlich der aufsteigende Asphalt in einen fallenden wandelt und die Abfahrt in Richtung Sölden beginnt. Hier genieße ich nochmal alles und die Abfahrt entschädigt, zumindest ein wenig, für die Qualen des Timmelsjochs.
Der Zieleinlauf ist dann unbeschreiblich: man rast mit 50 km /h auf der Geraden durch Sölden. Überall sind Menschen die Klatschen und Jubeln, dann biegt man rechts über die Brücke ein und passiert den Zielbogen wo unfassbar viele Menschen einem zujubeln und beglückwünschen. Ein Wahnsinnsgefühl und eine tolle Atmosphäre. 9 Stunden und 18 Minuten habe ich mit dieser Strecke gekämpft und am Ende habe ich gewonnen. Und es hat jeder gewonnen, der dieses Ding gefinisht hat. Egal wie lange er oder sie gebraucht hat. Denn eigentlich geht es hier gar nicht um Platzierungen oder Zielzeiten, sondern vielmehr darum, über sich hinaus zu wachsen und den inneren Schweinehund zu besiegen und darauf kann jeder mehr als stolz sein. Auch wenn mir die Beine heute (2 Tage danach) noch immer Schmerzen bereiten, so hab ich große Lust dieses Ding nächstes Jahr nochmal zu fahren!

Type: 
Ride
Date: 
2016-07-16T13:35:21Z
Avg Pace: 
1:59/km
Elevation: 
1003
Distance: 
71859.5
Moving time: 
8544
Activity id: 
642862052
Strava title: 
Nachmittagsradfahrt
Total photo count: 
0
Title: 
Ötztaler (test)
Summary Polyline: 
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Average speed: 
8.411
Language: 
German
Cover image: 
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